Die Juso ist die queerste Partei der Schweiz (2024)

Räume für Transmenschen, Pronomen-Pflicht an Sitzungen – und bald eine nichtbinäre Person an der Spitze? Keine Partei ist so queer wie die Juso. Das spürt zunehmend auch die SP.

Ladina Triaca

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Die Juso ist die queerste Partei der Schweiz (1)

Irgendwie passt er nicht mehr als Aushängeschild der Partei. Nicola Siegrist, 27, tritt in einem Monat als Präsident der Jungsozialisten zurück. Er gehört zu einer Spezies, die in der Jungpartei je länger, je seltener ist: Er ist ein Mann. Biologisch und gefühlt. Jetzt ist seine Zeit abgelaufen.

Bereits als Nicola Siegrist seinen Rücktritt ankündigte, machte er im «Tages-Anzeiger» klar: Er will keinen Mann als Nachfolger. Lieber eine Frau oder eine nichtbinäre Person. So kommt es nun auch.

Heute Sonntag endet die Bewerbungsfrist für das Juso-Präsidium. Zwei Personen haben ihre Kandidatur bis Redaktionsschluss eingereicht: Jakub Walczak, nichtbinäre Person aus Bern, und Mirjam Hostetmann, bisexuelle Frau aus Obwalden.

Die Juso ist die queerste Partei der Schweiz (2)

Die Juso wird künftig also queer regiert. Das ist kein Zufall. Keine andere Partei ist so im Regenbogenrausch wie die Jungsozialisten. «Die meisten unserer aktiven Mitglieder sind queer», sagt Nicola Siegrist. Lesben, Schwule und Bisexuelle sowie Nichtbinäre und Trans-Jugendliche seien die Norm – Heterosexuelle die Ausnahme. Unter Juso-Mitgliedern zirkuliert der Spruch: «Du bist so lange queer, bist du dich als straight outest.» Pride das ganze Jahr.

Das hat auch mit der Generation zu tun. Eine Umfrage des Gallup-Instituts in den USA zeigte kürzlich, dass sich rund 20 Prozent der Generation Z (18 bis 26 Jahre) als queer identifizieren. Bei den Millennials (27 bis 42 Jahre) sind es nur noch halb so viele, rund 10 Prozent. Bei der Generation X (43 bis 58 Jahre) sackt der Wert ab auf 5 Prozent. Und bei den Babyboomern (59 bis 77 Jahre) fühlen sich nur noch 2 Prozent nicht-heterosexuell.

Dass die Juso immer queerer wird, liegt daran, dass sie progressive, linke und städtische Jugendliche der Generation Z anzieht. Hinzu kommt: Wenn es an einem Ort viele queere Menschen hat, macht das auch etwas mit jenen, die neu dazukommen.

Zum Beispiel mit Jakub Walczak, der vielleicht ersten nichtbinären Person an der Spitze der Juso. Walczak lernte in der Jungpartei zum ersten Mal Menschen kennen, die sich nicht als Frau oder als Mann identifizieren. Auch, dass sich Jusos in der Regel mit ihrem Pronomen vorstellen, half beim Coming-out. «Auf diese Weise merkte ich, dass es am besten zu mir passt, wenn ich kein Pronomen verwende.»

So offen und tolerant sich die Jungsozialisten gegenüber allen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen geben, so kompliziert wird es, wenn es darum geht, alle Befindlichkeiten zu berücksichtigen. Das zeigt sich im Parteialltag.

In Sitzungen müssen sich alle Mitglieder mit ihrem Pronomen vorstellen. Auch in Videos der Juso auf Instagram gehen regelmässig fünf Sekunden für die Pronomen-Vorstellung drauf. «Ich heisse Laura, ich benutze das Sie-Pronomen», heisst es dann. Oder: «Ich heisse Lois, ich brauche kein Pronomen.» Kleine Horrorfilme für SVP-Wähler.

Besonders wichtig ist der Jungpartei, dass sich alle wohlfühlen. Dafür sind an Anlässen und Partys zum einen sogenannte Trust-Teams unterwegs. Das sind zwei bis drei Personen, die sich um Mitglieder kümmern, denen unwohl ist. Das kann sein, weil sie sexuell belästigt worden sind oder weil ihnen alles zu viel wird.

Zum anderen gibt es an Versammlungen und in Lagern der Juso spezielle Schutzräume, sogenannte Safer Spaces. Das sind Räume, in denen meistens ein Sofa steht, kein Alkohol getrunken werden darf und Ruhe herrscht. Die Juso-Leitung versucht, immer mindestens einen Safer Space bereitzustellen, in den sich sogenannte Flinta – also alle, die sich nicht als gewöhnliche Männer identifizieren – zurückziehen können. Wenn möglich, organisiert die Parteileitung einen zweiten Schutzraum für alle (sogar für Männer!). «Das ist aber manchmal aus logistischen Gründen nicht ganz einfach», sagt der Parteichef Siegrist.

Braucht es einen Raum für Transmenschen?

Den Höhepunkt erreicht die hypersensible Debatte bei den sogenannten Reflektierräumen. An ihnen zeigt sich, wie es die jungen Menschen zwar gut meinen, aber an den ständig wachsenden Ansprüchen scheitern.

Die Reflektierräume gehören zum obligatorischen Programm der Sommer- und Osterlager der Juso. Die Jugendlichen sprechen in diesen Räumen über ihre Geschlechterrollen. Am Anfang stand ein Frauenraum, eingeführt 2016 von der ersten weiblichen Juso-Präsidentin Tamara Funiciello. Im Frauenraum erzählen manche jungen Frauen zum ersten Mal von der sexualisierten Gewalt und den Belästigungen, die sie erlebt haben.

Bald darauf entstand ein Männerraum. Bis heute ist dieser wohl der unumstrittenste. Der Noch-Parteichef Nicola Siegrist sagt: «Den Männerraum sollten wir beibehalten. Wir Männer sind immer noch oft Täter und müssen unser Handeln reflektieren.»

Der Frauenraum hingegen wurde irgendwann in «Flinta-Raum» umbenannt. Er soll nicht nur Frauen Platz bieten, sondern auch intergeschlechtlichen, nichtbinären oder Transmenschen. Doch diese fühlen sich im Raum nicht wohl. Sie kritisieren das Zwei-Raum-Konzept bis heute.

Wo soll ein Transmann hin? Die Person fühlt sich als Mann, hat aber andere Erfahrungen gemacht als die anderen Männer im Männerraum. Was, wenn sich eine Person als Frau fühlt, dies aber niemandem gesagt hat? Dann outet sie sich ja mit dem Gang in einen Raum! In manchen Osterlagern entstand spontan ein dritter Raum für Nichtbinäre und Transmenschen. Und vor kurzem meldeten sich auch noch Juso-Mitglieder mit ADHS, Autismus und anderen sogenannten Neurodivergenzen und meinten: Sie brauchen auch einen Raum!

Die logistische Raumsuche scheint mittlerweile das kleinste Problem.

Die Geschäftsleitung der Juso Schweiz muss nun ein neues Raumkonzept ausarbeiten. Den Auftrag dazu hat sie an der Delegiertenversammlung im April erhalten. Schafft sie es bis im Juli nicht, sollen die Räume abgeschafft werden. In ihrem Antrag schreiben die Initianten fordernd: «Nur schon die Tatsache, dass die Räume in ihrem Ursprung Männer- und Frauenräume sind, sollte klar machen, dass sie für TINA-Menschen [also trans, intergeschlechtliche, nonbinäre und geschlechtslose Personen] nicht funktionieren.»

Maillard und das Er-Pronomen

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Die Juso kämpft nicht nur mit den vielen Identitäten, sondern auch mit den hohen Sensibilitäten. Einige Mitglieder wagen sich nicht, ihre Meinung zu einem identitätspolitischen Thema zu sagen, wenn sie nicht selber davon betroffen sind. Andere brechen fast in Tränen aus, wenn ihre Geschlechtsidentität in einer Rede nicht explizit erwähnt wird.

In der SP, der Mutterpartei der Juso, ist das ganz anders. Es gibt keine Safer Spaces und der Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard würde sich auf einer Baustelle wohl kaum mit dem Er-Pronomen vorstellen. Juso-Mitglieder schnöden, in der SP lerne man erst gerade, wie man richtig gendere. Mirjam Hostetmann, Kandidatin für das Juso-Präsidium, sagt: «Bei Anlässen der SP sprechen immer noch überdurchschnittlich oft Männer. Und meistens sind es ältere Männer, die die Redezeiten überschreiten.»

Die Sozialdemokratie, sie ist in den Augen vieler Jusos eine alte, heterosexuelle Welt.

Doch das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Die Juso ist mit ihren 4700 Mitgliedern das wichtigste Nachwuchsbecken der SP. Juso-Kader wandern regelmässig in die SP und prägen dort die Politik. Schon heute nimmt die queere Jugend in der SP Einfluss.

Die SP Queer, die die SP vor zwei Jahren stolz einführte, wird von langjährigen Jusos geführt. Die SP Kanton Zürich schaffte letztes Jahr – auf Druck der Jungen – die Geschlechterquote auf ihren Wahllisten ab und ersetzte sie durch eine Finta-Quote. Und die SP Kanton Bern ergänzte ihre traditionellen Männer- und Frauenlisten bei den Wahlen mit dem Begriff «queer», um auf nichtbinäre Menschen wie Jakub Walczak Rücksicht zu nehmen.

Bei seinem Rücktritt sagte der ehemalige SVP-Bundesrat Ueli Maurer, er wolle kein «Es» als Nachfolger. Angesichts des Marsches durch die Institutionen der Juso scheint es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis eine offen queere Person im Bundesrat sitzen wird.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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Sie sind das «freiheitliche Korrektiv», das «schlechte Gewissen» oder die «DNA» der Mutterparteien. Doch wie unabhängig sind Schweizer Jungparteien tatsächlich? Sie führen eigene Kampagnen durch, greifen mit Referenden und Initiativen in die Politik ein. Nicht alle Jungparteien haben sich gleich stark von ihren Mutterparteien emanzipiert.

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